Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden in Deutschland Ganztagsangebote in Schulen ausgebaut, um über den Unterricht hinaus vielfältige Lern- und Fördermöglichkeiten zu bieten. Eine zentrale Säule qualitativ hochwertiger ganztägiger Bildung ist die multiprofessionelle Zusammenarbeit verschiedener Fachkräfte. Wie diese Zusammenarbeit gelingen kann und welche Herausforderungen ein gemeinsam verantworteter Bildungstag mit sich bringt, berichtet uns Dr. Constanze Jeglinsky, wissenschaftliche Mitarbeiterin im sächsischen Modellprojekt „Ganztagspiloten“.
Frau Jeglinsky, was sind die „Ganztagspiloten“ und welche Ziele verfolgt das Projekt?
Die „Ganztagspiloten“ sind ein vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus gefördertes Modellprojekt. Zwischen 2022 und 2026 unterstützt und evaluiert unser Team vom Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung der Evangelischen Hochschule Dresden die Umsetzung eines rhythmisierten Ganztags an elf Modellstandorten. Darunter sind auch zwei Förderzentren. An unseren Modellstandorten kooperiert immer eine Grundschule mit nur einem Hort. Gemeinsam bilden sie einen Campus. Dort gibt es eine verbindliche Kernzeit von 8 bis 15 Uhr, in der die Kinder am Bildungs- und Betreuungsangebot teilnehmen.
Unser Team ist getrennt in eine Projektevaluation und eine Prozessbegleitung. Alles, was die Recherche und Aufbereitung von Literatur zum rhythmisierten Ganztag und die Erhebung bzw. Auswertung unserer Daten betrifft, betreut unsere Kollegin in der Evaluation. Wir in der Prozessbegleitung arbeiten sehr eng mit den Standorten zusammen.
Über unserem Projekt steht die Frage, wie die Umsetzung eines rhythmisierten Ganztags unter den jeweiligen Bedingungen vor Ort gelingen kann. Beim „rhythmisierten Bildungstag“ geht es darum, die strikte Trennung zwischen Unterricht am Vormittag und Hortzeit am Nachmittag aufzuheben. Klassischer Unterricht, AGs, Entspannungsphasen, Angebote zum Fördern und Vertiefen und weitere Ganztags- sowie Hortangebote wechseln sich über den Tag hinweg ab. Dieser Ablauf stellt die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt.
Im ersten Jahr des Projekts ging es vorrangig darum, unseren Standorten hierfür ein Verständnis zu vermitteln: Was ist eigentlich rhythmisierter Ganztag und wie unterscheidet er sich vom kooperativen Modell, bei dem es zwar personelle und organisatorische Überschneidungen gibt, aber eben kaum gemeinsame pädagogische Zusammenarbeit? Wir sagen, nur im rhythmisierten Ganztag können Schule und Hort nicht nur organisatorisch und personell, sondern auch pädagogisch eng zusammenarbeiten und in die gemeinsame Weiterentwicklung ihres Angebots gehen.
Wie unterstützen Sie die Standorte bei der Umsetzung dieses Ansatzes?
Zunächst haben wir für die Standorte ein Orientierungspapier zum rhythmisierten Ganztag verfasst. Das ist die Grundlage, um gemeinsam mit den Teams vor Ort ein Verständnis für den rhythmisierten Ganztag zu entwickeln. Wichtig ist uns, dass wir Schule und Hort als gleichberechtigtes multiprofessionelles Gesamtteam betrachten. Unser Ziel ist es, die Kooperation und den Austausch zwischen den beteiligten Akteuren zu fördern.
Das machen wir entlang ganz konkreter Problemstellungen. Zum Beispiel diskutieren wir mit den Teams an den Standorten, auf welche Weise sich Fördereinheiten in den Vormittagsbereich integrieren lassen oder wie ein gemeinsamer Kinderrat aufgestellt werden kann. So bringen wir Schule und Hort näher zueinander und entwickeln ein gemeinsames Verständnis eines an den Bedürfnissen der Kinder orientierten Ganztagsangebots. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern nur gemeinsam Schritt für Schritt.
Aufbauend auf der Verständigung über einen rhythmisierten Bildungstag vor Ort gehen wir dann in die Qualitätsentwicklung. Wir haben dazu einen eigenen Qualitätsrahmen erstellt – unsere sogenannte Arbeitshilfe. Sie lehnt sich an den Sächsischen Qualitätsrahmen für Ganztagsangebote an. Allerdings deckt dieser sowohl den Primarbereich, die Sekundarstufen I und II und den Förderschulbereich ab. Wir haben gemerkt, dass dieser breite Ansatz für unsere Arbeit nicht funktioniert. Deshalb haben wir unsere Arbeitshilfe spezifisch auf den Primarbereich zugeschnitten. Der Sächsische Qualitätsrahmen Ganztagsangebote bezieht sich auf Schulen mit Ganztagsangeboten und somit auf schulische Maßnahmen. Der Hort ist auf Grund der zwingenden Kooperationsvereinbarungen im GTA auch mit einbezogen. Und da bei den „Ganztagspiloten“ Schule und Hort immer gleichberechtigt und auf Augenhöhe angesprochen sind, haben wir den Hort mit der Arbeitshilfe gleichermaßen in die Entwicklung und Beurteilung von Qualitätsfragen einbezogen.
Die Arbeitshilfe ist untergliedert in vier zentrale und vier weitere Handlungsfelder, die mit verschiedenen Kriterien untersetzt sind. Zu jedem Feld gibt es einen Reflexionsbogen. Dieser ist die Grundlage für die Evaluation des Ganztags und wird von uns genutzt, um gemeinsam mit den Teams vor Ort Entwicklungsziele zu formulieren. Wir diskutieren, welche Vorhaben realisierbar sind, welche Maßnahmen es braucht und auf welche Weise sich diese am Standort und im Team umsetzen und kommunizieren lassen. Zudem fragen wir immer danach, wie die Beteiligung der Kinder an den Veränderungsprozessen sichergestellt werden kann.
In der Evaluation haben wir diesen Sommer verstärkt mit der Schülerschaft gearbeitet, um ihre Perspektiven auf den Ganztag zu erheben. Die Kinder wurden gefragt, was ihr Wohlbefinden beeinflusst, was sie sich wünschen und wie sie über Schule und Hort denken. Die Ergebnisse werden dann an die Standorte zurückgespielt und fließen in die Entwicklung des rhythmisierten Ganztags ein.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Umsetzung eines rhythmisierten Ganztags?
Wir haben vor allem damit zu kämpfen, dass Schule und Hort in zwei unterschiedlichen Systemen angesiedelt sind. Auf der Steuerungsebene und der organisatorischen Ebene sollen sie getrennt agieren. Gleichzeitig sollen sie im Rahmen des Ganztags eng miteinander zusammenarbeiten. Die Ganztagsangebote, werden in der Regel von der Schule organisiert, finanziert und umgesetzt, häufig aber während der Hortzeit durchgeführt. Das führt immer mal wieder zu Irritationen und einer gewissen Unklarheit, wo die Ganztagsangebote nun angesiedelt sind.
Wir haben versucht, den Standorten zu vermitteln, dass es nicht um die einzelnen Ganztagsangebote geht, sondern tatsächlich um den Ganztag als Gebilde – als Einheit, die von Schule und Hort gemeinsam ausgestaltet wird. Wir haben dazu unter anderem Steuergruppen eingerichtet. Hier kommen z.B. Schul- und Hortleitung, Lehr- und Hortfachkräfte sowie die vor Ort tätigen Schulassistenzen und Mitarbeitende aus der Schulsozialarbeit zusammen. In den regelmäßigen Runden geht es unter anderem um konzeptionelle Fragen und ein gemeinsames Verständnis von Bildung, Lernen und Förderung von Kindern. In diesem Jahr haben wir die Fachberatungen der Jugendämter für die Horte hinzugezogen. Wir merken, dass sie eine große Ressource für die Ganztagsentwicklung am Standort darstellen, weil sie die Weiterentwicklung von Zielen und Ideen gut begleiten können.
Außerdem stellen wir fest, dass die Ansprüche des rhythmisierten Ganztags teilweise mit den Bedürfnissen der Familien und dem Zeitrahmen, den der ÖPNV vorgibt, kollidieren. Es gibt z.B. Kinder, die im Sport aktiv sind und den Standort schon vor dem Ablauf der eigentlichen Kernzeit verlassen müssen. In einigen Regionen haben Kindern aufgrund des Fahrplans des ÖPNV kaum die Möglichkeit bis zum vereinbarten Ende des Bildungstages zu bleiben. Das ist besonders in den Ferien ein Problem, weil die Schülerbeförderung auf die Unterrichtszeit abgestimmt ist und die Angebote des Horts in den Ferien gar nicht oder nur schwer in Anspruch genommen werden können. Die Kinder haben schlicht keine Möglichkeit an den Standort zu kommen, wenn ihre Eltern sie nicht fahren und wieder abholen.
Hier versuchen wir mit den Standorten flexible Lösungen zu finden. Künftig ist es denkbar z.B. die Kernzeit an drei Tagen in der Woche von sieben auf sechs Stunden zu reduzieren. Wir loten aus, was ein guter zeitlicher Rahmen wäre, um eine Rhythmisierung umzusetzen und wie wir dabei flexibler auf die Bedingungen vor Ort und die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Familien eingehen können.
Eine weitere Herausforderung sind die Ressourcen und das Personal. Das betrifft einerseits den allgemeinen Personalmangel in Schulen und Horten. Aber auch praktische Fragen: Wie ist es möglich, dass Hortfachkräfte am Vormittag mit Lehrkräften im Tandem arbeiten, wenn sie nur 30-Stunden-Verträge haben und diese Stunden letztlich auch für die Abdeckung der Randzeiten brauchen? Wie schaffen die Ganztagskoordinatorinnen und -koordinatoren ihre Arbeit mit dem zur Verfügung stehenden knappen Zeitbudget von ein bis zwei Stunden pro Woche? Der Ganztag braucht mehr Ressourcen und ein eigenes Zeitbudget!
Wie geht es weiter bei den „Ganztagspiloten“
Wir sind jetzt ungefähr in der Mitte des Projekts. Wir haben viele Erfahrungen gesammelt und das Gefühl, dass es jetzt läuft und alle miteinander vertraut sind. Unser Ziel für die restliche Projektlaufzeit ist es, das professionelle Selbstverständnis des Horts auf eine andere Stufe zu heben. Hierfür möchten wir mit unseren Standorten in gemeinsamer Verantwortung eine Ganztagskonzeption entwickeln.
Unser Ziel ist es, gemeinsam mit den Partnerinnen und Partnern an den Standorten zu schauen, wie eine Gesamtkonzeption inklusive Ganztag aussehen kann. Wir versuchen die Standorte dafür zu gewinnen, alles, was am Standort in Sachen Ganztag passiert, konsequent gemeinsam zu denken – weg von einem sich gegenseitigen Informieren, hin zu einer tatsächlich gemeinsamen Gestaltung des Bildungstages.
Und wir freuen uns, dass sich die Standorte auf unser Projekt einlassen. Sie halten sich die notwendigen Zeiträume frei, formulieren SMARTE Ziele und sind bereit sich zu öffnen und in die Karten gucken zu lassen. Auch dort, wo schon viele Dinge angeschoben wurden, gibt es immer wieder neue Ideen, um den Bildungstag der Kinder als etwas Gemeinsames zu entwickeln.
Michael Brock, Kommunalberatung Sachsen