Der Blick von Jugendlichen auf ihre berufliche Zukunft ist für kommunalpolitische Planungs- und Gestaltungsprozesse bedeutsam. Zwar lassen sich Schulabgänge und Einmündungen in den Ausbildungssektor mit kommunalen Daten beobachten, welche Wünsche und auch Befürchtungen Jugendliche am Übergang von der Schule in den Beruf haben, ist jedoch nur durch eigene Datenerhebungen zu ermitteln. Marie-Luise Gerhardt, Bildungskoordinatorin im Altenburger Land, hat eine solche Erhebung umgesetzt.
Ländliche Regionen sind im besonderen Maße durch Abwanderung von Jugendlichen betroffen. Die jungen Menschen fehlen ansässigen Unternehmen als Arbeits- und Fachkräfte von morgen. Das Altenburger Land hat eine der niedrigsten Quoten an besetzten Lehrstellen, die somit im wahrsten Sinne des Wortes Leerstellen bleiben.
Die Möglichkeiten des regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarkts sind von hoher Bedeutung, wenn es darum geht, ob junge Menschen im Landkreis bleiben oder den Start ins Berufsleben andernorts suchen. Jugendliche wandern etwa ab, weil sie ihren Wunschberuf nur an anderer Stelle erlernen können.
Mobilität erleben sie dabei nicht nur als Chance, sondern auch als finanzielle und zeitliche Belastung, wenn sie weite Wege zur Berufsschule oder den Ausbildungsbetrieben zurücklegen müssen. Oftmals kennen sie auch die Ausbildungsmöglichkeiten in der Kommune nur zum Teil und stehen deshalb dem Verbleib in der Region skeptisch gegenüber.
Dabei ist die Lage meist besser, als Jugendliche sie wahrnehmen. Transparente Angebote und Einblicke in ihre beruflichen Entwicklungschancen können deshalb ein bedeutender Faktor für den Verbleib junger Menschen in einer Region sein. An dieser Stelle möchte der Landkreis Altenburger Land ansetzen. Jugendliche sollen bei ihrer weitreichenden und schwierigen Entscheidung für eine berufliche Zukunft zielgerichteter unterstützt werden.
Das wichtigste Werkzeug dafür ist eine gute und abgestimmte Berufsorientierung in der Region. Sie soll jungen Menschen die Bandbreite von Ausbildungsmöglichkeiten vor Ort und ein realitätsnahes und ausgewogenes Bild über die verschiedenen Berufsbilder vermitteln und so zwischen den Wünschen und Vorstellungen der Jugendlichen und den Bedarfen und Angeboten des regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarktes vermitteln.
Zusammen mit einer modernen Infrastruktur für Weiterbildung, und in enger Zusammenarbeit mit Ausbildungsbetrieben und Kammern, sollen jungen Menschen damit Bleibeperspektiven geboten und die negativen Effekte des demografischen Wandels auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gemildert werden.
Datenlücken bei der beruflichen Orientierung durch eigene Erhebungen schliessen
Im Jahr 2021 erscheinen zwei Bildungskurzberichte zum Übergangsgeschehen im Altenburger Land. Die Befunde, dass beispielsweise trotz stabiler Absolventenzahlen Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben, wecken im besonderen Maße das kommunalpolitische Interesse an Berufsorientierungsprozessen von Jugendlichen im Altenburger Land.
Zudem werfen sie neue Fragen auf: Welche beruflichen Ziele und Wünsche haben Jugendliche im Altenburger Land? Wollen sie für eine Ausbildung in der Region bleiben oder sie verlassen? Wie sammeln und bewerten sie ihre Informationen zum (regionalen) Ausbildungsmarkt?
Diese Fragen sind für die Entwicklung einer bedarfsgerechten Berufsorientierung wesentlich. Die amtliche Statistik gibt den Planenden aus der Kommune hierauf aber keine Antworten. Stattdessen müssen sie Daten zu individuellen Berufswünschen und Plänen für die Zeit nach der Schule selbst erheben.
Die Neugier ist geweckt und der politische Rückenwind für eine vertiefende Befragung von Jugendlichen im Landkreis gesichert. Mit Unterstützung des Modellvorhabens „Progressiver ländlicher Raum – Altenburger Land“ und unter Federführung der Bildungskoordinatorin Marie-Luise Gerhardt und der Koordinatorin für den Strukturwandel, Dr. Carolin Kiehl, wurde im Altenburger Land eine Befragung unter Jugendlichen aus den Schulabgangsklassen durchgeführt.
Bei der Planung und Durchführung wurden sie von der Dualen Hochschule Gera-Eisenach unterstützt. Als zentraler Kooperationspartner des Strukturwandelprozesses im Altenburger Land begleitete die – auf duale praxisintegrierende Studiengänge spezialisierte – Hochschule die Erhebung durch ihre wissenschaftliche Expertise und Erfahrungen in der empirischen Forschung.
Die Planung und Umsetzung einer eigenen Erhebung
Die idealtypischen Phasen eines Forschungsprozesses bilden den Rahmen der Untersuchung. Bei der Erarbeitung des theoretischen Rahmens orientiert sich Frau Gerhardt u.a. an den Übergangspanels des Deutschen Jugendinstituts, die sich ebenfalls mit den beruflichen Orientierungsprozessen und Übergangswegen von Schulabgängerinnen und -abgängern auseinandersetzen.
Außerdem bezieht sie frühzeitig Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialplanung und dem Integrationsmanagement in die Diskussion ein. Zielstellung, Erkenntnisinteresse und konkrete Forschungsfragen hat sie in einem Erhebungskonzept dokumentiert, das als roter Faden bei der Konstruktion des Fragebogens dient.
Die Umfrage wird als Online-Erhebung konzipiert, was die Aufbereitung und Auswertung der Daten deutlich erleichtert. Befragt werden Jugendliche aus den Abgangsklassen der Schulen des Landkreises. Zentrale Themen sind die Pläne der jungen Menschen für die Zeit nach der Schule, ihre Erfahrung bei der Ausbildungsplatzsuche, Ansprüche an potentielle Ausbildungsbetriebe, Erfahrung bei der Berufsorientierung und ihre Bindung an das Altenburger Land.
Die Befragung der Jugendlichen findet in den Schulen statt. Frau Gerhardt nutzt Schulleitungskonferenzen und Planungsraumtreffen, um für die Teilnahme an der Befragung zu werben. Auch der Kreiselternbeirat und Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter machen sich für eine Teilnahme stark. Die enge Kooperation mit Schulleitungen erweist sich als besonders bedeutsam. Sie wickeln nicht nur das Einholen der Einverständniserklärungen der Eltern ab, sondern organisieren die Erhebung in der jeweiligen Schule: Sie stellen Computerkabinette zur Verfügung und regeln den Ablauf der Befragung.
Flankiert wird die Befragung der Absolventinnen und Absolventen von einer Unternehmensbefragung, die ebenfalls in der Hand der Bildungskoordinatorin und ihrer Partner liegt. Darin machten 146 Unternehmen aus dem Landkreis Angaben zu ihren Strategien der Fachkräftesicherung und Ausbildungsplatzbesetzung sowie ihren Anforderungen an Bewerbende.
Zentrale Ergebnisse und die Wirkung der Befragung
Die beiden Befragungen fördern spannende Erkenntnisse zu Tage. Es wird deutlich, wo sich Jugendliche des Landkreises über Ausbildungsmöglichkeiten informieren und wie sie die Angebote der Berufsorientierung bewerten.
Am hilfreichsten bei der Berufswahl ist das Schülerpraktikum; hingegen sind Informationsbroschüren zwar bei den meisten bekannt, ihr Mehrwert wird jedoch eher gering eingeschätzt. Im Abgleich mit der Unternehmungsbefragung zeigt sich, dass es für fast dreiviertel der Jugendlichen wichtig ist, ihren zukünftigen Ausbildungsberuf zu kennen. Auch für 98% der befragten Unternehmen stellt dies die wichtigste Anforderung an die Bewerbenden dar. Gleichzeitig sehen fast 60% der Unternehmen eine fehlende Kenntnis der angebotenen Berufe als Grund für unbesetzte Ausbildungsstellen.
Die Befunde unterstreichen die Bedeutung einer passenden Berufsorientierung als wichtiges Instrument im Abgleich der Wünsche und Vorstellungen der Jugendlichen und der Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten auf Unternehmensseite, um Rückschlägen und Frustration auf beiden Seiten entgegenzuwirken.
„Spannend waren aber nicht nur die einzelnen Ergebnisse“, wie Frau Gerhardt betont, „sondern die Kraft, die diese Befragung insgesamt freigesetzt hat“. Es sei gelungen, einen ständigen Austausch zu initiieren, um gemeinsam zum Übergang von der Schule in den Beruf im Landkreis nachzudenken und zu diskutieren, wie die Potenziale der Jugendlichen und ansässigen Unternehmen entwickelt und Chancen eröffnet werden können.
Ort dieses partnerschaftlichen Dialoges ist der Arbeitskreis Schule-Wirtschaft, dessen Wiederbelebung zu großen Teilen auf die Aktivitäten rund um die Befragungen zurückgeht. Der Arbeitskreis ist ein Netzwerk verschiedener Akteure aus Schule, Wirtschaft, Kammern, Verbänden, dem Schulamt Ostthüringen, der Bundesagentur für Arbeit, dem Landratsamt Altenburger Land und sonstigen kommunalen Einrichtungen und Vertretern einer praxisnahen Berufsorientierung im Landkreis.
Kommunalverwaltung als aktiv Handelnde im Feld der Berufsorientierung
Im reaktivierten Arbeitskreis Schule-Wirtschaft wird nun verstärkt die Rolle der Kommune als Gestalterin im Bereich der Berufsorientierung reflektiert. Es werden Wege erkundet, jungen Menschen eine berufliche Perspektive im Landkreis zu geben und sie bei der Berufswahl zu unterstützen.
Die Kommunalverwaltung begreift sich dabei als aktiv Handelnde im Bereich der Berufsorientierung: Sie übernimmt gemeinsam mit der Agentur für Arbeit Thüringen Ost die Koordination des Arbeitskreises, sie stellt Transparenz über die Aktivitäten der Berufsorientierung her, schafft Begegnungsmöglichkeiten für Jugendliche und Unternehmen, etwa auf der Messe „JOB Chance Altenburg“ oder dem Projekttag „Satt statt platt“, entwickelt und veröffentlicht selbst Produkte wie den Praktikumsfinder oder den Kalender zur Berufsorientierung und unterstützt durch ihre Bildungslotsen Lernpatenschaften zwischen Unternehmen und Schulen.
Die Aktivitäten im Bereich der Berufsorientierung des Landkreises sind vielfältig. In ihrer Gesamtheit sind sie ein zentraler Baustein, um auch auf kommunaler Ebene dem Arbeits- und Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Alles, damit Lehrstellen keine Leerstellen bleiben.
Michael Brock, Kommunalberatung Sachsen